Wo ist der rote Kugelschreiber?

9. Dez 2021

„Mama, was ist denn mit Dir los? Warum rennst Du denn so aufgeregt hin und her und stellst das ganze Büro auf den Kopf?“

„Ich suche den roten Kugelschreiber. Leider haben wir nur noch einen davon… Ich verstehe das nicht – ich hatte ihn doch auf die ausgedruckte Übersetzung gelegt, damit Papa damit seine Korrekturen vermerken kann…“

„Den Kugelschreiber habe ich mir ausgeliehen.“

„Waaas? Warum das denn? Ich hoffe, Du hast ihn nicht gefressen, bei Dir weiß man ja nie…“

„Was Du mir schon wieder alles unterstellst! Nein, ich war leider gezwungen, mir den roten Kugelschreiber auszuleihen, schließlich habe ich ja keinen eigenen.“

„Aber wozu brauchst Du denn einen Kugelschreiber? Und dann auch noch einen roten?“

„Um meine Memoiren zu schreiben, für die Nachwelt.“

„Deine Memoiren? Ich habe noch nie gehört, dass ein Hund seine Memoiren schreibt. Für welche Nachwelt?“

„Tja, da kannst Du ‘mal sehen! Ich habe natürlich meinem Publikum gegenüber gewisse Verpflichtungen, und da Du und Papa bisher nicht auf die Idee gekommen seid, mir einen eigenen Kugelschreiber mit meinem Namen drauf zu schenken – so einen, wie Du ihn hast – musste ich leider diesen hier ausleihen.

Dir wird nicht entgangen sein, dass selbst Ihr Menschen wichtige Dinge in roter Farbe schreibt und nicht in Blau oder Schwarz (das soll keine Kritik an Deinem eigenen Kugelschreiber sein, bitte nicht falsch verstehen!). Also habe ich mich für Rot entschieden, damit meine Memoiren auch gebührend gewürdigt werden.“

„Deine Memoiren…?“

„Ja, sicher. Ich verfüge inzwischen nicht nur über eine reichhaltige Lebenserfahrung und genügend Bildung (immerhin habe ich die Prüfung zum Hundeführerschein bestanden), sondern auch über ein Wissen über das Zusammenleben mit Menschen, von dem sowohl die Rateros auf Mallorca als auch die in Deutschland profitieren sollten.“

„Unter Minderwertigkeitskomplexen leidest Du ja nicht gerade…“

„So ein Konzept ist bei Rateros völlig unbekannt und würde auch die natürlich Entwicklung unserer Persönlichkeit nur unnötig stören. – Aufgrund meines Rangs – ich bin immerhin César de Villafranca, Rechtsanwalt der Hunde – bin ich geradezu verpflichtet, mein Wissen, meine Forschungsergebnisse und meine Geschichte der Nachwelt zu hinterlassen.“

„Nun ja, dann bin ich einmal gespannt… – Aber Du hattest mir doch schon Deine Erziehungstipps in ‚Briefe an Emma‘ diktiert. Und nun willst Du auch noch Deine Memoiren schreiben?“

„Genau das ist ja das Problem: Mein Buch war nur für die Hunde bestimmt und streng geheim. Trotzdem haben die Menschen es gelesen. Jetzt schreibe ich meine Memoiren selbst, ohne sie Dir zu diktieren, damit sie geheim bleiben.“

„Also gut, es tut mir leid, wir Menschen sind nun einmal neugierig. Das müsstest Du doch eigentlich verstehen, oder? Dann schreibe eben jetzt Deine Memoiren mit dem roten Kugelschreiber, Papa bekommt solange einen anderen Stift.“

„Ich bräuchte aber noch Papier, und zwar nicht das einfache, langweilige, weiße Papier, das Du und Papa benutzt, sondern hundegerechtes, interessantes Papier.“

„Was verstehst Du denn darunter? Papier ist doch Papier.“

„Nein, ich meine damit das Papier, in dem das Fleisch eingewickelt ist, das Papa vom Schlachter mitbringt. Das riecht doch ganz anders als Euer weißes Papier.“

„Hm, ja, im Augenblick haben wir allerdings kein Einwickelpapier vom Schlachter, weil wir versuchen, nur einmal pro Woche Fleisch zu essen und Papa deshalb in den letzten Tagen nicht beim Schlachter war.“

„Würdest Du Papa dann bitte sagen, er soll zum Schlachter fahren und Papier besorgen? Es soll aber nach Fleisch riechen, also müsste er auch gleichzeitig Fleisch kaufen, damit ich das Papier verarbeiten kann.“

„Aha, daher weht der Wind… Ja, verstehe, es geht schließlich um Deine Memoiren, um einen Kulturschatz für die Nachwelt, der zwingend nur auf Einwickelpapier vom Schlachter mit einem roten Kugelschreiber niedergeschrieben werden kann.“

„Genau, und je schneller Papa das Spezialpapier besorgt, desto schneller kann ich Euch auch Euren roten Kugelschreiber wiedergeben.“

„Wie gut, dass wir einen so hilfsbereiten Papa haben… Und was passiert dann eigentlich mit dem Fleisch?“

„Du hast doch selbst gesagt, dass Du und Papa jetzt weniger Fleisch essen wollt…“

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